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Der Berg

Meine Frau und ich standen bereits seit längerem unter starkem Druck. Viele Wochen war es her, dass aus uns zwei sehr verliebten, freien, liebevollen und tief verwurzelten Menschen, zwei verängstigte und verletzte Menschen geworden sind, die einen Konflikt nach dem anderen austrugen und einsehen mussten, dass ihre Kommunikation doch nicht so gut ist, wie sie gedacht hatten.

Wir diskutierten hin und her und kamen nicht weiter. Wir fanden keinen Weg gemeinsam und getrennt wollten wir auch nicht sein. Es gab viele viele Tränen und viele Emotionen, die sich manchmal im Stundentakt wechselten. Es war wie eine Achterbahn. Rauf und runter und wieder ganz tief und wieder etwas höher. Es gab keinen Tag an dem wir uns nicht unwohl fühlten. Jedes Mal, wenn wir einander in die Augen sahen, sahen wir die Traurigkeit und den Schmerz des jeweils anderen. Ich verstand nicht, warum wir keine gemeinsame Lösung finden konnten und genauso wenig verstand es meine Frau. Jeder hatte seinen Standpunkt und wollte verstanden werden vom anderen, war dann aber selbst nicht in der Lage zu verstehen. Vielleicht verstand jeder sich selbst nicht wirklich.

Wir waren so sehr in unseren Verletzungen gefangen, dass jeder nur sich selbst retten wollte. Es ging hier ganz klar ums Überleben. Beide wollten geliebt und angenommen werden. In diesem Bedürfnis, konnten wir jedoch keine Liebe und Verständnis für den anderen aufbringen. So blieben wir in diesem Kreislauf.

Wir verstanden, dass unsere Beziehung eine freiwillige Angelegenheit für uns beide war. Wenn sie keinen Spaß mehr macht und nur noch zur Last wird, dann macht sie auch keinen Sinn. Da waren wir uns einig. Das machte alles nur noch unberechenbar.

Wir taten gut daran darüber zu sprechen, dass wir beide einander festhalten wollen.

Wir probierten viel um unsere Konflikte zu bewältigen und versuchten immer im Kontakt zu bleiben.

Ich sah ein Video von einer Familientherapeutin, wie sie die Schwierigkeiten einer Familie therapierte. Ihr war es wichtig, dass die Betroffenen immer in Kontakt blieben miteinander. Es leuchtete mir ein, denn sobald meine Frau und ich uns stritten entfernten wir uns voneinander. Wir gingen aus dem Kontakt, denn die Verletzungen waren ja geknüpft an die jeweils andere Person. Also wollten wir einander meiden. Das brachte uns aber tatsächlich nicht wieder zusammen, sondern immer nur die aktive Kontaktaufnahme. Meistens waren es Gespräche, die wir starteten. Am Ende eines jeden Gespräches fühlten wir uns beide etwas besser. Aber die Konflikte holten uns immer wieder ein und ließen uns zweifeln an der Sinnhaftigkeit der Beziehung.

Was diese Therapeutin, die ich sah mit den Beteiligten machte faszinierte mich sehr. Sie ließ die Betroffenen über ihren Körper in Kontakt gehen. Sie sollten sich an den Händen halten, während sie miteinander sprachen. Das konnte ich mir vorstellen für meine Frau und mich und schlug dies meiner Frau vor. Wir taten es. Es war uns beiden wichtig in Kontakt zu bleiben egal, was da zwischen uns ist. Es wirkte Wunder, dieses Hände halten. Wir konnten liebevoller miteinander umgehen.

Und dennoch - unsere Probleme gingen damit nicht weg.


Wir glichen eines Tages unsere Werte miteinander ab. Die Frage dabei war: Was war jedem von uns wichtig in der Beziehung?

Wir hatten ein gutes Gespräch und es stellte sich heraus, dass wir eine Unterschiedlichkeit hatten, die so sehr gravierend war, dass ziemlich schnell klar war, dass die Beziehung so keinen Bestand mehr haben könnte.

Es war unfassbar und kam so plötzlich, dass wir beide viele Wochen brauchten, um diese Information zu verarbeiten. In diesen Wochen gab es erneut viele Tränen und viele viele unterschiedliche Emotionen. Wir blieben im Gespräch. Uns beiden war klar, dass diese Beziehung unglaublich wichtig für uns beide ist, auch wenn sie vielleicht keine Liebesbeziehung mehr sein konnte.


Ich konnte irgendwann mit all den Aufs und Abs nicht mehr umgehen und suchte mir einen Therapeuten.

Ich hatte ein sehr angenehmes Gespräch in welchem ich die Lage aus meiner Sicht schilderte. Plötzlich nahm der Therapeut ein Blatt Papier und sagte: „Stellen sie sich vor, dass dieses Blatt Papier ihre Beziehung ist.“ Er zerknüllte vor meinen Augen das Papier und sagte dann: „Ihre Beziehung verändert sich.“ Dann faltete er die Papierkugel auseinander und sagte: „Ihre Beziehung wird nie mehr so sein, wie sie war.“ Das Blatt Papier war nun voller Falten, es war keine glatte Landschaft mehr, es sah benutzt aus.

Ich schaute mir das Papier eine Weile an, um die Botschaft sacken zu lassen. Ich war geplättet von dieser Information.

Doch wie aus dem nichts kam es mir. Ich nahm das Papier in meine Hände, formte in der Mitte einen großen Berg und sagte: „Das ist wahr. Jetzt aber, kann ich mit diesem Papier etwas Neues machen.“

Das Papier und auch die Beziehung, müssen nicht so bleiben, wie sie jetzt sind. Ich selbst kann entscheiden, was damit passiert. Ich war sehr motiviert durch meinen Gedanken, eine Beziehung nach eigenen Vorstellungen zu kreieren. Ich ging ziemlich zufrieden nach Hause und erzählte meiner Frau vom Papier und dem Berg. Sie war sehr angetan.

Nun war es an uns, in uns hineinzufühlen und eine neue, ganz persönliche Idee von dieser Beziehung entstehen zu lassen.

Heute, viele Jahre später bin ich glücklich verheiratet mit meiner neuen Frau. Wir haben noch ein Kind bekommen, nachdem ich meine Kinderplanung eigentlich bereits abgeschlossen hatte. Mit ihr bekam ich erneut Lust auf den Geschmack des Vater-seins. Es ist alles ganz wunderbar, es ist rund und harmonisch und freuen uns des Lebens.


Meine damalige Frau ist ebenfalls neu liiert und sehr glücklich.

Wir sehen uns regelmäßig und essen zusammen zum Mittag in der Sonne in unterschiedlichen Cafés in der Stadt in der wir beide mit unseren neuen Familien leben.


Wenn wir einander begegnen ist es immer noch Liebe, die aus unseren Augen leuchtet. Wir freuen uns aufeinander und schätzen einander sehr. Eine Liebesbeziehung war es, die uns einander hat kennenlernen lassen, jedoch ist es nun eine Freundschaft, die uns tief verbindet. Und unsere Freundschaft ist wie dieser Berg, den ich damals in der Therapie formte. Groß-artig, stabil, gefestigt und beeindruckend in seinem Sein.


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